Anamnese
Eine 77-jährige kaukasische Frau wurde im September 2020 mit der Verdachtsdiagnose
einer intraokularen Inflammation notfallmäßig an unsere Klinik überwiesen, nachdem
sie in einer Praxis am Vortag an beiden Augen die zweite intravitreale Brolucizumab-Injektion
erhalten hatte. Die Patientin berichtete, dass sie bisher in der Praxis jahrelang
nahezu monatlich an beiden Augen zur Behandlung der neovaskulären Makuladegeneration
(nAMD) intravitreale Injektionen mit VEGF-Inhibitoren („vascular endothelial growth
factor“) erhalten habe, zuletzt mit Aflibercept. Vor 4 Wochen sei das erste Mal an
beiden Augen das neu zugelassene Präparat Brolucizumab (6 mg/0,05 ml) verabreicht
worden. Die Patientin berichtete, dass sie zuvor auf Aflibercept gut angesprochen
habe. Der behandelnde Arzt habe ihr mitgeteilt, dass mit dem neuen Präparat möglicherweise
ein größerer Therapieerfolg erzielt werden könne, und ihr deswegen vorgeschlagen,
auf das neue Präparat umzustellen. Die Patientin berichtete von einem initial besseren
Seheindruck beidseits in den ersten Tagen nach der ersten Injektion. Zwei Wochen später
habe die Patientin ein „Spinnennetz“ am linken Auge wahrgenommen. Der behandelnde
Augenarzt habe ihr bei der sofort notfallmäßig erfolgten Wiedervorstellung mitgeteilt,
dass dies auf eine milde Glaskörperblutung zurückzuführen sei. Zwei Tage vor dem regulären
Termin für die nächste Injektion (4 Wochen nach der ersten Injektion) habe die Patientin
am linken Auge eine „Gewitterwolke“ wahrgenommen. Trotz der geschilderten Symptomatik
wurde extern erneut eine beidseitige Injektion von Brolucizumab verabreicht. Eine
erneute Untersuchung vor der Injektion habe nicht stattgefunden. Am selben Abend habe
die Patientin an beiden Augen „nichts mehr gesehen“.
Befund
Bei der Vorstellung betrug der bestkorrigierte Visus rechts 0,1 und links 0,05. Der
Visus vor der ersten Brolucizumab-Injektion ist nicht bekannt. Der Augeninnendruck
betrug R/L 14 mm Hg. Bei der Untersuchung zeigten sich beidseits granulomatöse Präzipitate
am Endothel, ein ausgeprägter Vorderkammerreiz sowie zahlreiche Glaskörperzellen.
Trotz des verwaschenen Einblickes am linken Auge war eine Ischämie der oberen Netzhauthälfte eindeutig
zu erkennen (Abb. 1a, b). Die Fluoreszenzangiographie zeigte beidseits Gefäße mit
Leckage (Abb. 1c, d). In der optischen Kohärenztomografie (OCT) war ein starker Glaskörperreiz
links mehr als rechts zu sehen (Abb. 1e, f).
Diagnose
R/L intraokulare Entzündung und retinale Vaskulitis nach bilateraler Brolucizumab-Gabe,
einhergehend mit einem arteriellen Gefäßverschluss (nur am linken Auge).
Therapie und Verlauf
Wir erörterten mit der Patientin ausführlich die Chancen und Risiken der möglichen
Therapieoptionen (intravitreale Steroidinjektion, systemische Steroidbehandlung, Pars-plana-Vitrektomie)
[4, 5, 11]. Angesichts des fulminanten Verlaufes und des bereits nachgewiesenen Gefäßverschlusses
am vormals besseren linken Auge entschieden wir uns auf Wunsch der Patientin für eine
Maximaltherapie: Zur Entfernung des auslösenden Antigens und des inflammatorischen
Materials im Glaskörperraum wurde sofort beidseits eine Vitrektomie durchgeführt.
Zur Behandlung der Inflammation wurde beidseits ein Dexamethason-Implantat intravitreal
implantiert (Abb. 2a–d). Die Patientin wurde außerdem zur i.v.-Therapie mit Methylprednisolon
(1 g für 3 Tage, 500 mg für 2 Tage und 100 mg für 6 Tage) stationär aufgenommen. Als
Lokaltherapie wurden Prednisolonacetat stündlich und Ofloxacin 4‑mal/Tag getropft.
Im Glaskörperaspirat konnten keine Erreger festgestellt werden. In Zusammenschau mit
der klinischen Befundbesserung unter der Kortisontherapie ist eine infektiöse Endophthalmitis
differenzialdiagnostisch somit eher unwahrscheinlich. Bei Entlassung bestand beidseits
ein reizloser Augenbefund mit einem bestkorrigierten Visus von 0,32 rechts und 0,5
links. Die systemische Kortisontherapie wurde bei Entlassung oralisiert und gemeinsam
mit der Lokaltherapie schrittweise reduziert. Am 10. Tag nach Erstvorstellung war
der intraokulare Befund beidseits reizfrei und die Makula trocken (Abb. 3a–d). Vier
Wochen nach der Operation konnte am rechten Auge neue intraretinale Flüssigkeit nachgewiesen
werden, sodass die Anti-VEGF-Therapie fortgesetzt wurde (Abb. 3e, f). Bei reizfreiem
Augenbefund wurde Aflibercept verabreicht, da dies zuvor gut vertragen worden war.
Nach der Injektion erfolgten engmaschige Kontrollen mehrmals wöchentlich. Es ergab
sich kein Hinweis auf eine erneute Entzündungsreaktion. Acht Wochen nach Erstvorstellung
stabilisierte sich der Visus beidseits auf 0,32. Die Patientin berichtete von einem
schwarzen Balken am linken Auge, der beim Lesen störe. Funduskopisch zeigte sich links
eine langstreckige Einscheidung der superioren Gefäße (Abb. 4a, b). In der OCT-Angiographie
waren im superioren Makulabereich des linken Auges nur noch vereinzelte Gefäßäste
zu sehen, am rechten Auge war das Kapillarnetz in der 15° × 15° OCT-Angiographie weitestgehend
unauffällig (Abb. 4c, d). Die Mikroperimetrie zeigte eine Sensitivitätsminderung an
beiden Augen (Abb. 4e, f). Wir planten neben der regulären Vorstellung im Rahmen der
Anti-VEGF-Therapie eine Sehhilfenanpassung.
Diskussion
Der in Deutschland seit 2020 für die Behandlung der nAMD zugelassene VEGF-Inhibitor
Brolucizumab ist ein humanisiertes monoklonales Antikörperfragment mit einer Molekülmasse
von 26 kDa [10]. Die Phase-3-Studien HAWK und HARRIER haben gezeigt, dass Brolucizumab
in 8‑ oder 12-wöchentlichem Intervall dem festen 8‑wöchigen Injektionsschema von Aflibercept
in der Behandlung der nAMD nicht unterlegen war. Ebenso waren die zentrale Netzhautdicke
und die Häufigkeit von intra- oder subretinaler Flüssigkeit in der Brolucizumab-Gruppe
geringer als in der Aflibercept-Gruppe [6, 10]. Bei vergleichbarem Visusverlauf und
besserem anatomischem Ergebnis trotz längeren Spritzintervalls bietet Brolucizumab
die Möglichkeit, die Injektionsfrequenz zu reduzieren. Dies könnte zu einer besseren
Adhärenz der Patienten sowie einer Reduktion des kumulativen Infektionsrisikos beitragen.
Im Rahmen der Zulassungsstudien von Brolucizumab wurden in der Brolucizumab-Gruppe
häufiger intraokulare Entzündungen beobachtet (4 % in der 6‑mg-Brolucizumab-Gruppe
im Vergleich zu 1 % in der 2‑mg-Aflibercept-Gruppe). Diese wurden meistens als mild
beschrieben [7, 9]. Die Anzahl der berichteten Vaskulitiden nach Brolucizumab-Injektion
stieg jedoch nach der Zulassung des Präparates in den USA deutlich an. Die Inzidenz
einer retinalen Vaskulitis mit und ohne Gefäßverschluss beträgt laut Post-Marketing
Analysen des Herstellers (www.brolucizumab.info, Stand 23.10.20) insgesamt 14,5/10.000 Injektionen.
Es wird vermutet, dass die Brolucizumab-induzierte Vaskulopathie eine Typ-4-Hypersensitivitätsreaktion
darstellt, die nicht beim erstmaligen Antigenkontakt auftritt, sondern erst verzögert
im Verlauf [1, 3, 8]. Die Tatsache, dass die Patientin aber bereits nach der Erstinjektion
verstärkt Floater wahrnahm, könnte darauf hindeuten, dass bei ihr möglicherweise Antikörper
schon vor der Erstbehandlung vorhanden waren. Dies ist jedoch in unserem Fall nicht
zu klären, da sich die Patientin nicht nach der Erstinjektion bei uns vorgestellt
hatte und uns Vorbefunde leider nicht vorgelegt werden konnten. Die meisten Fallberichte
schildern das Einsetzen der Symptomatik nach ca. 20 bis 30 Tagen [3].
Zum Zeitpunkt der Erstvorstellung der Patientin in unserer Klinik gab es keine Leitlinie
zum Management der Vaskulitis nach einer Brolucizumab-Gabe. Baumal et al. haben aber
zwischenzeitlich eine Orientierungshilfe publiziert, die auf eine individualisierte
Behandlung abzielt [2]. Die Autoren fassen zusammen, dass lokale Kortikosteroide allein
nur bei einer isolierten intraokularen Reizreaktion ohne Hinweis auf Vaskulitis oder
Gefäßverschluss möglicherweise ausreichen können. Bei Persistenz oder Verschlechterung
sowie bei Vorliegen einer Vaskulitis sollte die Kortikosteroidtherapie zügig auf die
intravitreale und/oder systemische Anwendung ausgeweitet werden. In schweren Fällen
mit Gefäßverschluss kann eine Vitrektomie in Erwägung gezogen werden. Bei einer okklusiven
Vaskulitis wie bei unserer Patientin haben wir uns – auch auf den Wunsch der Patientin
hin – für eine Maximaltherapie, bestehend aus einer Vitrektomie und Implantation eines
Dexamethason-Implantats sowie einer systemischen und lokalen Kortikosteroidtherapie,
entschieden. Die Kombination aus Dexamethason-Implantat und systemischer Therapie
im ausschleichenden Schema erachteten wir als sinnvoll, um die Immunantwort so schnell
wie möglich zu supprimieren, damit weitere Schäden vermieden werden konnten. Es gibt
aber auch Fallberichte zu okklusiven Vaskulitiden, die rein konservativ behandelt
wurden und ebenfalls mit einem Visusanstieg und Abklingen des Reizzustandes im Verlauf
einhergingen [12]. Die klinische Erfahrung mit Brolucizumab-assoziierten intraokularen
Entzündungen und/oder okklusiven Vaskulitiden ist noch sehr limitiert, sodass weitere
Untersuchungen abgewartet werden müssen, bevor eine eindeutige Behandlungsempfehlung
gegeben werden kann. Die rasche Einleitung der Therapie hat v. a. das Ziel weitere
Schäden zu verhindern. Die Schäden, die bei einer okklusiven Vaskulitis im Bereich
des Verschlussgebietes entstehen, sind leider in der Regel irreversibel.
Da die Inflammation nach intravitrealer Injektion von Brolucizumab sehr selten ist,
aber in dem Fall ein schnelles Eingreifen erforderlich ist, kommt der Früherkennung
eine entscheidende Bedeutung zu. Die Patienten sollten so aufgeklärt werden, dass
sie relevante oder anhaltende Symptome (insbesondere [zunehmende] Mouches volantes,
Schmerzen, Druckgefühl, Lichtempfindlichkeit, Visusminderung) nach intravitrealer
Injektion umgehend melden, um ein rechtzeitiges Eingreifen zu erleichtern. Patienten,
bei denen eine intraokulare Inflammation diagnostiziert wurde, sollten auf das Vorliegen
einer begleitenden retinalen Vaskulitis und/oder eines retinalen vaskulären Verschlussereignisses
untersucht werden. Die klinische Untersuchung kann durch multimodale bildgebende Verfahren
ergänzt werden. Bei dem Verdacht auf eine Inflammation sollte die laufende Brolucizumab-Behandlung
in jedem Falle ausgesetzt werden [2, 3]. Der Untersuchung des Fundus des Patienten
in Mydriasis vor Verabreichung der Injektion kommt daher eine hohe Bedeutung zu.
Aufgrund des erhöhten Risikos einer (okklusiven) Vaskulitis bei Brolucizumab sollte
das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer zeitgleichen beidseitigen Behandlung sorgfältig
abgewogen werden. Ein denkbarer Ansatz wäre, zunächst nur ein Auge mit Brolucizumab
zu behandeln und das Partnerauge erst im Verlauf, wenn keine Nebenwirkungen auftreten.
Fazit für die Praxis
Das Auftreten von Nebenwirkungen nach Brolucizumab-Injektionen ist insgesamt sehr
selten. Patienten sollten aber über eine Vaskulitis und die damit einhergehenden Symptome
aufgeklärt werden.
Vorboten einer Inflammation nach Brolucizumab-Injektionen können unspezifisch sein
und sich erst Wochen nach der Injektion entwickeln. Insbesondere (zunehmende) Mouches
volantes, Schmerzen, Druckgefühl, Lichtempfindlichkeit und Visusminderung sind verdächtig.
Im Falle des Auftretens einer Inflammation besteht die Notwendigkeit einer frühzeitigen
Diagnose, eines sofortigen und rechtzeitigen Eingreifens, einer intensiven Behandlung
und Überwachung, um das Risiko eines Fortschreitens dieses Ereignisses zu minimieren.
Eine Untersuchung des Fundus der Patienten in Mydriasis vor Verabreichung einer intravitrealen
Injektion ist entscheidend, um eine bestehende intraokulare Inflammation auszuschließen.
Unser Fall zeigt eindrücklich, dass bereits bei bestehendem Verdacht auf eine Inflammation
keinesfalls eine weitere Injektion verabreicht werden sollte.