Hintergrund
Störungen der Vigilanz, des Schlafes sowie verschiedener Hirnstammfunktionen finden
sich bei einer Vielzahl neurologischer Erkrankungen. Neben den häufigen Differenzialdiagnosen
der einzelnen Symptome sollten dabei, insbesondere beim gemeinsamen Auftreten im Rahmen
eines Syndroms, auch seltene Ursachen erwogen werden. Erst vor wenigen Jahren konnten
Autoantikörper gegen das neuronale Zelladhäsionsmolekül IgLON5 bei Patienten mit Schlafstörungen,
Bewegungsstörungen und Hirnstammsymptomen in Serum und Liquor nachgewiesen werden
[10]. Die mit dem Nachweis von Anti-IgLON5-Antikörpern beschriebenen klinischen Defizite
werden seither als Anti-IgLON5-Syndrom oder Anti-IgLON5-Erkrankung zusammengefasst
und als weitere Autoimmunenzephalitis eingeordnet [10].
Die zwei folgenden Fallbeschreibungen sollen nicht nur das heterogene klinische Spektrum
des Anti-IgLON5-Syndroms illustrieren, sondern auch aussichtsreiche Therapiemöglichkeiten
aufzeigen.
Kasuistik 1
Eine 79-jährige Patientin stellte sich notfallmäßig mit akuter Dyspnoe in unserer
Klinik vor. An relevanten Vorerkrankungen bestanden ein obstruktives Schlafapnoesyndrom
(OSAS) und ein arterieller Hypertonus. Bei rasch progredientem inspiratorischem Stridor
und bei akutem Laryngospasmus erfolgte die notfallmäßige Intubation mit Aufnahme auf
die Intensivstation. Nach der Gabe von Prednisolon und blandem Lokalbefund konnte
die Patientin am Folgetag extubiert werden. In der Folge kam es zu wiederholten Laryngospasmen,
sodass die Reintubation mit Tracheotomie erfolgte. In einer HNO-ärztlichen Abklärung
ergaben sich keine erklärenden Ursachen für die rezidivierenden Laryngospasmen, sodass
die Patientin konsiliarisch neurologisch vorgestellt wurde. Fremdanamnestisch wurden
eine progrediente Muskelschwäche mit Dysarthrie während der vergangenen Wochen sowie
rezidivierende optische Halluzinationen mit Schlafstörungen (sehr lebhafte Träume
mit Umherschlagen im Schlaf, a.e. einer REM-Schlaf-Verhaltensstörungen entsprechend)
seit Monaten berichtet. Bei der Verlegung auf unsere neurologische Überwachungsstation
war die Patientin wach, über ein Tracheostoma spontanatmend und befolgte Aufforderungen.
Es fanden sich Atrophien und Faszikulationen an den oberen Extremitäten, Faszikulationen
im Gesichtsbereich, Zungenfibrillationen (siehe Video Zusatzmaterial online) sowie
in der flexiblen endoskopischen Evaluation des Schluckaktes (FEES) Faszikulationen
der Rachenhinterwand, eine oropharyngeale Dysphagie sowie eine Stimmlippenparese.
Die Muskeleigenreflexe waren seitengleich und mittellebhaft auslösbar. Ein cMRT zeigte
lediglich diskrete mikroangiopathische Marklagerveränderungen. Bei blandem Liquorbefund
(1 Zelle/µl, keine Schrankenstörung oder intrathekale Immunglobulinsynthese), regelrechtem
EEG und normwertiger Serienstimulation des N. facialis ergaben sich keine Hinweise
für eine Hirnstammpathologie, eine Myasthenie oder epileptische Anfälle.
Differenzialdiagnostisch wurde eine Motoneuronerkrankung erwogen, hierzu passend fanden
sich pathologische Spontanaktivität im EMG der oberen und unteren Extremitäten und
erhöhte Neurofilamentleichtketten im Serum (Nf‑L 204 pg/ml), sodass eine Therapie
mit Riluzol begonnen wurde.
Im kurzfristigen Verlauf war bei Hyperkapnie und hiervon unabhängiger fluktuierender
Vigilanzminderung eine erneute Verlegung auf unsere Intensivstation nötig. In der
erweiterten Differenzialdiagnostik wurden hochtitrige IgLON5-Antikörper im Serum nachgewiesen
(1:1000). In der HLA-Genotypisierung zeigten sich die bei der Anti-IgLON5-Erkrankung
gehäuft auftretenden Allele HLA-DRB1*1001 und HLA-DQB1*0501.
Unter der Annahme einer Autoimmunenzephalitis mit Anti-IgLON5-Antikörpern erfolgten
aufgrund der ausgeprägten Symptomatik und der akuten klinischen Dynamik insgesamt
sieben Plasmapheresen (alle zwei Tage), unter denen sich die Symptomatik deutlich
besserte. Die Therapie mit Riluzol wurde beendet. Die Kommunikation wurde mittels
Sprechkanüle zunehmend verständlich möglich, im Verlauf konnte die Patienten in die
Frührehabilitation verlegt werden. Acht Wochen später wurde eine immunmodulatorische
Therapie mit Rituximab begonnen. Zu diesem Zeitpunkt präsentierte sich die Patientin
mit gebesserter Zungenfibrillation, Dysarthrie und Dysphagie, wobei bei vorbestehendem
OSAS und wiederholten Hyperkapniephasen eine nächtliche CPAP-Beatmung initiiert wurde.
Hierunter kam zu einer Stabilisierung des OSAS. Zu erneuten Hyperkapniephasen oder
REM-Schlaf-Verhaltensstörungen kam es nicht.
Kasuistik 2
Ein 62-jähriger Patient wurde wegen seit vier Monaten progredienten, wenngleich fluktuierenden
Doppelbildern stationär aufgenommen. Klinisch zeigten sich wechselnde Augenmuskelparesen,
die mit einer Beteiligung des III., IV. und VI. Hirnnerven vereinbar waren. Weitere
fokal-neurologische Defizite waren nicht zu erheben. Zudem klagte der Patient neben
Nachtschweiß über eine zunehmende Fatigue-Symptomatik mit Abnahme physischer und kognitiver
Belastbarkeit. Bei Angaben einer Schlafstörung konnte im Schlaflabor ein OSAS objektiviert
werden. Im cMRT zeigte sich eine Kontrastmittelaufnahme beider Nn. oculomotorii, im
Liquor waren eine lymphomonozytäre Pleozytose (13 Zellen/µl) mit erhöhtem B‑Zell-
und Plasmablastenanteil (CD19+-Zellen 4,8 %, CD19+CD138+-Zellen 1,3 %) sowie eine
Schrankenstörung (Liquor-Serum-Albumin-Quotient 17,9 × 10−3) auffällig. Die weitere
Diagnostik (Labor, CT-Thorax, Elektrophysiologie) erbrachte keinen wegweisenden Befund.
Jedoch fanden sich in der Autoimmunserologie IgLON5-Antikörper (Liquor 1:320, Serum
1:3200).
Bei milder klinischer Symptomatik und langsamer klinischer Dynamik begannen wir eine
Therapie mit Prednisolon (oral 1 mg/kgKG) für insgesamt 18 Tage. Bei ambulanten Vorstellungen
waren die Symptome gut zurückgebildet; nach 5 Monaten bestanden lediglich noch passagere,
morgendliche Doppelbilder. Nach einem Jahr wurde mit Ausnahme eines persistierenden
OSAS eine vollständige Beschwerdefreiheit berichtet. Eine nächtliche CPAP-Versorgung
wurde vom Patienten abgelehnt. Bei weitgehender Beschwerderemission sahen wir von
einer weiteren immunmodulatorischen Langzeittherapie ab.
Diskussion
Die beiden beschriebenen Fälle zeigen das heterogene klinische Bild der Anti-IgLON5-Erkrankung.
Wie im aktuellen Beitrag ersichtlich und in der Literatur beschrieben, umfasst sie
neben OSAS häufig Schlafstörungen mit REM-Schlaf-Parasomnien und Bewegungsstörungen
[3, 5, 7, 8]. Andere fokal neurologische Defizite wie Laryngospasmen, Bulbärsymptome,
autonome, kognitive und psychiatrische Störungen sind ebenfalls häufig [1, 4, 10].
Optische Halluzinationen – wie in Kasuistik 1 aufgetreten – sind bisher nur in Einzelfällen
beschrieben [2].
Dem aktuellen Verständnis nach handelt es sich bei der Anti-IgLON5-Erkrankung am ehesten
um eine Autoimmunenzephalitis mit neurodegenerativer Komponente. IgLON5 ist ein ubiquitär
exprimiertes Zelladhäsionsprotein, dessen genaue neuronale Funktion nicht bekannt
ist [11]. In experimentellen Studien konnte ein direkter pathophysiologischer Effekt
von Anti-IgLON5-Antikörper auf die Integrität des neuronalen Zytoskeletts gezeigt
werden, was die Hypothese einer Enzephalitis unterstreicht [9]. Hierfür spricht auch,
wie bei unserer ersten Patientin, die Assoziation mit den HLA-Allelen HLA-DRB1*1001
und HLA-DQB1*0501 [4, 10], was eine genetische Suszeptibilität für autoinflammatorische
Vorgänge, wie sie bei einer Vielzahl von Autoimmunerkrankungen beschrieben wurden,
nahelegt. Zudem belegt der histologische Nachweis des neuronalen Zelluntergangs mit
phosphorylierten Tau-Ablagerungen im Bereich des Tegmentums und Hypothalamus eine,
möglicherweise sekundäre, Neurodegeneration [6, 10].
In der Diagnostik der Anti-IgLON5-Erkrankung finden sich darüber hinaus meist unspezifische
Befunde. Das cMRT ist meistens unauffällig. Bei bis zu 50 % der Patienten finden sich
im Liquor eine Pleozytose und Proteinerhöhung [4]. Antikörper gegen IgLON5 waren bei
allen in der Literatur beschriebenen Patienten im Serum und zum Großteil auch im Liquor
nachweisbar [1].
Bei den hier beschriebenen Patienten kam es durch die eingeleitete Immuntherapie zu
einer deutlichen Symptombesserung. Insgesamt sprechen 30–50 % der Patienten mit Anti-IgLON5-Erkrankung
auf Immuntherapien (Steroide, Immunglobuline oder Plasmapheresen) an, wobei eine frühe
Immuntherapie mit einem besseren Outcome assoziiert ist [7]. Die Gabe von Second-line-Immuntherapeutika
oder eine Kombinationstherapie scheinen das Ansprechen zu erhöhen [1, 7]. Die Wahl
der Immuntherapie sollte aus Sicht der Autoren unter Berücksichtigung von Komorbiditäten,
Schwere des klinischen Befundes und klinischer Dynamik erfolgen. So entschieden wir
uns bei Patientin 1, die bei akuter Dynamik einer wiederholten intensivmedizinischen
Therapie bedurfte, für eine Plasmaseparation mit einer Rituximab-Erhaltungstherapie,
während beim Patienten 2 bei milder Klinik und langsamer klinischer Dynamik über Monate
eine orale Steroidtherapie zur Anwendung kam.
Fazit für die Praxis
Die klinischen Manifestationen der Anti-IgLON5-Erkrankung sind heterogen und umfassen
Hirnstammsymptome bis hin zur Ateminsuffizienz. Häufig treten Schlafstörungen (Non-REM-Schlaf‑,
REM-Schlaf-Verhaltensstörungen, OSAS), auf.
Entscheidend ist der serologische Nachweis von Anti-IgLON5-Antikörpern. Bei klinischem
Verdacht, d. h. vor allem bei bulbären Zeichen, Schlaf(verhaltens)störungen oder Bewegungsstörungen
im höheren Lebensalter, sollte diese Testung gerade bei fehlenden Auffälligkeiten
in cMRT und Liquor erfolgen.
Bis zu 50 % der Betroffenen sprechen auf Immuntherapien (Steroide, Immunglobuline,
Plasmapherese/Immunadsorption) an.
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